Vom „public common“ zum Privatissimum

Die derzeitig erkennbare Entwicklung von bedrucktem Papier


Vom „public common“ zum Privatissimum

Die derzeitig erkennbare Entwicklung von bedrucktem Papier

 

Leider neigen die meisten bei der Beurteilung technischer und funktionaler Entwicklungen – vor allem, wenn signifikante Umbrüche dabei sind – zur völlig übertriebenen Rigorosität. „Löst das Digitale das Gedruckte ab?“ und ähnlich lauten die Thesen, Fragen, Menetekel-Beschwörungen, „ist Papier am Ende, ein Auslaufmodell, nicht mehr gefragt?“. Vor allem, wenn man geschäftlich-beruflich mit der papier- und pappe-verarbeitenden Industrie, dem grafisch-visuellen Design, Drucken, der Weiterverarbeitung zu tun hat, in Verlagen oder handwerklichen Buchbindereien tätig ist. Vorweg: es darf Entwarnung gegeben werden und außerdem, die Änderung von Sichtweisen ist dringend geboten und empfohlen.

 

Wie woanders

 

Zunächst einmal: Gourmet-Küche boomt, aber die Fast-Food- und Cate- rings-Unternehmen machen steigende Umsätze. Klar, das Auto ist das normale private, persönliche Fortbewegungs- und Verkehrsmittel; dennoch gibt es zehntausende von Hufschmieden und etliche hunderttausend Pferde in Deutschland. Wellness-Urlaub ist „angesagt“, Ayurveda und Bachblütentee; gleichzeitig quellen die Hotels der All-in- und Jubel-Trubel-Heiterkeits-Klassen vor sauf- und feierwütigen Menschen über. Flugtickets kann man für 40, 50 Euro bekommen; das dazugehörige Parken am Flughafen kostet 80, 100 und mehr. Will sagen: Wir leben in einer Zeit der Gleichzeitigkeit des Widersprüchlichen.

Warum sollte die Materialklasse Papier und dessen Derivate, die Kultur des professionellen und klassischen Druckens davon ausgenommen sein? Schon allein deshalb lautet die Regel:

  • Je intensiver wir mit auf- und anregenden, nervenbeanspruchenden digital-elektronischen Informationen überschüttet wer- den, desto größer die Sehnsucht nach Ruhe und Illusionen auf Papier (und Kartons, sprich Verpackungen).


    Für Menschen gemacht
    Papier ist ein extrem „menschliches“ Medium, weil es die psychologischen und emotionalen Verlangen stillt und Eigenschaften hat, die einmalig sind:
    • „Begreifen“ hat wirklich mit Begreifen, Anfassen, zu tun. Das „Inbesitz-nehmen“, Ergreifen, Horten, Sortieren von Papier ist kein intellektueller, sondern ein extrem emotionaler („beruhigender“) Vorgang. Goethe hatte
      recht: „Denn was Du schwarz auf weiß ….“
    • Das „Gefühlte“ am Papier, die Haptik, ist eindeutig Teil der Botschaft, der Information, der Wertigkeit. Ein Bildschirm ist „neutral“, „sachlich“; daskann Papier nie sein.
    • Papier ist wie „Beute“ in unserer emotionalen, inneren „Steinzeitjäger“-Mentalität. Büros sind heute, was in der Steppe und Frühzeit die Höhlen oder Hütten waren: private Schutzräume des Rückzugs, die verteidigt wer-
      den und in denen Beute gelagert wird. Früher Mammuts, heute Akten.
    • Elektronische Medien geben den Takt vor: Filme oder Musik sind nicht geschwindigkeits-veränderbar; beim Surfen im Internet neigt man unwill- kürlich (unbewusst) zu immer schnellerem Klicken, einer Art scharfem Galopp durchs unübersichtliche Gestrüpp der visuellen Reizangebote. Papier hingegen ist passiv, geduldig: jeder kann es in der Geschwindigkeit lesen, so oft, in der Reihenfolge und mit den Augen dort verharrend, wie man es möchte. Papier, Gedrucktes, überfordert niemals das Gehirn! Im Gegenteil, ob Bücher oder Verpackungen: sie strahlen Ruhe und Zuverläs-sigkeit aus.
    • Und nicht nur nebenbei: Bislang haben sich Papier und Kartonagen als
      extrem dauerhaft und die Epochen überstehend erwiesen, gleichwohl es eigentlich ein Material ist, das leicht zerstört werden könnte; doch richtig gelagert, übersteht es jeden Stromausfall :-)
      Deshalb dürfen wir schlussfolgern:
  • Solange es physikalisch-materiell und legal-ökonomisch verfüg- bar und bezahlbar ist und bleibt, werden Papier-Erzeugnisse
    „begehrlich“ und „wertvoll“ bleiben.
    Doch es wird eben Umbrüche geben, Veränderungen in der Nutzung und Bedeutung, die eminent wichtig sind und daher auch die gesamte Infrastruktur der grafischen Industrie tangieren werden:


    These 1: funktionale Wende
    • früher (sozusagen „bis vor kurzem“): Papier informiert, elektronische Me- dien animieren. Papier war/ist das Zuverlässige, Wirkliche, Wahre; das WWW und Multimediales ist irgendwie „nur“ Unterhaltung, allenfalls Infotainment.
    • Jetzt: Papier, Gedrucktes animiert und repräsentiert; hingegen sind alle
      (Echtzeit- und on-demand-) Informationen in/auf/mit Computern zu fin- den. Symbolisch: früher das dicke Kursbuch der Bahn, „alle Reisen zur Hand“. Heute dagegen: ein Klick ins Internet, die Verspätung auf Bahn- steig 3 wird minutengenau angezeigt.
      Papier bekommt die Bedeutung des Werte-Vermittlers. War das Gedruckte selbst einst eher Bote („Medium“ = Vermittler), so stellt es heute einen repräsentativen Wert dar.
      Der Grund übrigens, weshalb wir sehr sicher sein können, dass die Veredlung von Drucksachen (vor allem Verpackungen jeglicher Art) signifikant zunehmen wird. Man könnte es auch so sagen: Drucksachen, Gedrucktes wird generell vom Mittler zum Botschafter, vom neutralen Transporteur zum repräsentierenden Stellvertreter.


      These 2: Gedrucktes wird vom Dominator zum Teamplayer
      Ganz ohne Frage: Multimedia gehört die Zukunft.
    • Aber Multi-(oder Cross-, Mixed-, Blended-) Media ist eben nicht die ausschließliche Dominanz bzw. Existenz digital-elektronischer Medien,
      sondern …
    • … es ist der Mix aus interaktiven, vernetzten und telekommunikativen Medien plus statische, materielle Medien (eben Gedrucktes, Papier, Kartonagen).
      Multimedia („multi-channel-publishing“) ist ein Konzept, keine Technik; es ist ein Prinzip, keine Funktionalität. Ergo werden Papier und Karton- produkte, solange sie global und generell bezahlbar plus ökologisch unbe- denklich verfügbar sind, eine wichtige, eine neue, eine unverzichtbare Rolle spielen.
  • Gedrucktes übernimmt die gegensätzlichen Funktionen „ex und hopp“ (Anregung, Anstoß, Initiator) wie auch des Bewahrens, Dokumentierens, über den Tag hinaus verfügbar machen. Beide (gegensätzlichen) Funktionen werden gleich wichtig sein und bleiben.
  • Papier/Gedrucktes repräsentiert Werte; Digital-Elektronisches vermittelt aktuelle Informationen (wobei auch der aktuelle Stand des „gesicherten Wissens“ dazugehört).
    Das schließt ein und fordert, die Produktion von Gedrucktem und sein Preislevel (auch unter Einbeziehung von Veredelung) müssen sowohl in zeitlicher wie ökonomischer Hinsicht den Kriterien derzeitiger Business- Konzepte gerecht werden und genügen; die ziemlich abwegig, aber auch unabweisbar lauten: mit immer weniger Personal und Aufwand immer mehr Effizienz in immer kürzer Zeit erreichen.


    These 3: Jedes Unternehmen ist ein Verlag
    (Tele-) Kommunikation, Mobilität, flexible Logistik und ganz generell die Globalität haben die einst geltenden, auf lokalen Märkten zu beobachten- den Regeln von Angebot und Nachfrage und damit verbundener Preisbil- dung fast vollständig außer Kraft gesetzt. Nicht zuletzt das Internet macht es möglich:
    • jeder, der will, kann global (über enge lokale Grenzen hinaus) geschäftlich
      tätig sein, anbieten und liefern;
    • die Fülle der Angebote auf allen Medienkanälen, die Permanenz der Werbung lassen das Gefühl von Fülle und Überfluss entstehen;
    • es ist kaum noch möglich, unter all den potentiellen Angeboten das optimale (das „richtige“) zu finden und umgekehrt: ein Anbieter kann eine noch so hochqualitative, wertvolle und/oder einmalige Ware oder Dienst- leistung anbieten, kommuniziert er nicht massiv darüber, bleibt diese unbeachtet. Mehr denn je gilt: „Wer nicht wirbt, stirbt“.
  • Immer mehr sind daher JEDER Berufstätige und JEDES Unter- nehmen gefordert, „Publisher“ zu sein; ob dies nun Dokumentation, (Re)Präsentation oder Animation ist, ob es Unterhaltung, Information oder die Mischung, also Infotainment, ist – egal, sowohl per Medium Papier wie multi-medial muss man seine
    Leistungen, Dienste, Waren, Aussagen, Besonderheiten und der- gleichen kundtun.
    • Inhouse-Publishing, Inhouse-Printing eingeschlossen, „Office Publishing“
      werden daher extrem stark zunehmen (begünstigt auch durch immer effizienteren Digitaldruck, sowohl im low-budget wie im high-volume-Bereich);
    • der Bedarf nach „Buchbinderischem“ wird vor allem im büro-nahen Umfeld
      (inklusive Home-Office) stark zunehmen; dies schon allein deshalb, weil vieles Gedrucktes „on demand“, nach Bedarf und spontan entsteht oder keine Zeit mehr zum Einschalten von Dienstleistern bleibt (was nicht heißt, dass andere große Bereiche, vor allem Groß- und Massenauflagen, auch weiterhin Bestand und Berechtigung haben werden).


      Papier ist und bleibt ein „Privatissimum“, etwas sehr Persönliches. Es ist daher logisch, dass es im Laufe der Zeit immer spontaner, in- dividueller, „selbstgemachter“ bedruckt wird, bis es eine „Jedermann-Technologie“ geworden ist.
      Die Branche der Buchbindereien hat sich im Sektor „große Mengen, schnelle Bearbeitung“ gut aufgestellt. Im Bereich, den man analog zu den Copy-Shops „bookbindung to go“ nennen könnte (kleine Auflagen, „auf die Schnelle“ gebunden) hat sich bislang kaum ein Unternehmen gewagt. Dabei zeigen die Web-to-print-Konzepte (allen voran Fotobücher), dass ein riesiger Bedarf vorhanden wäre, egal, ob gedruckt per Datentransfer oder als Ladengeschäft z. B. in größeren Städten.


      Fazit
      Digitaldruck und Buchbinderei – das ist eine Kombination, mit der kann man „richtig Geld verdienen“!


      Auch Buchbindereien und Papier-/Kartonverarbeitern muss nicht bange um ihre Zukunft sein. Vorausgesetzt, Ihnen ist klar:
  • Je mehr man heute das tut, was man schon immer getan hat, wird man in Zukunft immer weniger zu tun haben.
    Oder umgekehrt und positiv ausgedrückt:
  • Papier ist eine Bühne; Worte die Schauspieler, Bilder die Kulissen, Farben die Scheinwerfer, Veredelung die Show-Effekte. Wem es gelingt, Papier und Gedrucktes, Kartons, Verpackungen und dergleichen zu „inszenieren“, schafft Medien, auf die niemand verzichten möchte und kann.
    Das war und ist sozusagen die „künstlerische Seite“ der Medaille, die am ehesten noch an Traditionen und Handwerk anknüpft, selbst wenn die Herstellung längst ein nüchtern-industrieller Prozess ist.
    Aber eben, da bleiben ja noch diese „Papierverarbeitungs-Fabriken“, bei denen Auflagen, Tonnagen, Hochleistung und unmöglich-knappe Termine die Normalität und der Unternehmensinhalt sind. Was geschieht mit die- sen?
    Gerade dafür hat die drupa 2012 eine Antwort parat gehalten, die absolut widerspruchsfrei zu bisherigen Erkenntnissen und Entwicklungen ist und an deren zukünftige Richtigkeit überhaupt kein Zweifel bestehen kann.
  • Prozessoptimierung, Standards, Angebots-Profilierung lauten die drei unverzichtbaren Kerntugenden (eigentlich sogar die Basis) aller industriellen Produktion, Produktionsbetriebe.
    „Fummeln“, Improvisieren, allen Wünschen gerecht werden: das ist absolut out, das ist wirtschaftlicher Selbstmord. Wer das Wort „Service“ groß be- tont, hat den ersten Schritt zu seinem Ende getan. Service ist Wahnsinn! Weil Service in diesem Land regelmäßig mit „kostenloser Leistung“, mit unbezahltem Mehraufwand verwechselt wird und gemeint ist.
    Der Service von heute und der Zukunft besteht aus
    • Einem sehr deutlich formulierten Leistungs-, Güte- und Mengen-Angebot, das klar ein Unternehmen und seine Dienste charakterisiert, profiliert,
      differenziert;
    • der Beschränkung auf die wirklichen Kernkompetenzen und in einem gegenüber dem Wettbewerb möglichst besseren Preis-Leistungs-Verhältnis;
    • durchgängige, glasklare und zweifelsfrei erkennbare Preisstruktur, die
      sehr wohl nach Intensitäts- und Leistungsstufen differenzieren kann (also das, was früher als „Service“ verschenkt wurde) in eindeutige, nachvoll- ziehbare und logische Preise umwandelt (immer „im Hinterkopf“: (Ange- bots- und Verkaufs-) Preise und Kosten [Produktions-, Gestehungskosten]
      sind und bleiben „zwei paar Schuhe“);
    • kompromisslose Top-Qualität, Fehlerfreiheit mit Garantie;
    • unter allen Umständen eingehaltene Termine, wenn sie zugesichert sind.
      Nur das – und nichts anderes, keine Abweichung auch nur im geringsten – ist industrielle Fertigung. Nur so kann man überleben im dem Sinne, dass man dem Wettbewerb überlegen ist, also auf dem Markt eine führende Po- sition einnehmen kann.
      Dies ist eine Regel, die immer und in jedem Markt- oder Produktionssegment gilt, also auch für papier- und kartonagen-weiterverarbeitende Betriebe, eben die industriellen Buchbindereien.


      Zukunftssorgen muss man eigentlich keine haben. Vorausgesetzt, man verwirklicht, was die drupa 2012 klar empfohlen hat: „printindustry reborn“, das ehemalige „Grafische Gewerbe“ wird auf der Basis in- dustrieller Prozesse, übergreifender Standards und einer durch die Individualität der System- und Maschinenkombinationen neu erfunden, neu aufgestellt. Jeder kann, mehr denn je, seine Spezialität, sein USP finden.
      Daraus ergibt sich:
  • Wir stehen vor einer nicht-linearen Zukunft. Die Verhaltens- und Denkmuster der Vergangenheit sind keine Vorlage für die Zukunft; in vielen Bereichen der Berufs-, Geschäfts- und Lebenswelten entstehen neue Ansprüche, Gewohnheiten und Strukturen, die keine unmittelbaren Vorgänger hatten. „Die Welt wird
    neu erfunden“ könnte man oft den Eindruck haben.
  • Erfahrungen können von größtem Nachteil sein; sie hindern da- ran, die neue Zeit objektiv und mit entsprechender „Coolnes“ zu sehen und zu bewältigen.

Nicht das Ende des Papiers, nicht das Ende der Druckindustrie und mithin nicht das Ende auch der Buchbindereien – handwerklich oder industriell sind gekommen.

Aber so, wie diese Branche bisher aufgestellt war, hat sie keine Chance mehr. Sie muss sich – und hat sich längst, vor allem im Ausland, dort, wo es keine Fachtraditionen gibt !!! – neu arrangieren, anders organisieren und präsentieren. Zu anderen Konzepten finden, die den Trends der Zeit Rechnung tragen.

In diesem Sinne war die drupa 2012 „die erste drupa der Neuen Druckindustrie“. Das passt doch gut zusammen mit 125 Jahre Bindereport. Wir können sicher sein: Ab jetzt berichtet diese älteste Fachzeitschrift der HighTech-Branche Paper&Print über die nächsten 125 Jahre einer spannenden Entwicklung, an deren Ende stehen wird … — — — ???

(Meine Antwort: Professionell gestaltete und produzierte Drucksachen als Privileg der Reichen und Verfügenden, als ein Luxusartikel, der von besonderem Wert ist. Und gleichzeitig immer und überall gefertigte

„Normaldrucksachen“, erzeugt aus Templates und mit netzbasierten Generatoren, mit vollautomatischen Jedermann-Drucksystemen, die „nebenbei“ auf Knopfdruck entstehen und komplett, fix und fertig „aus der Maschine kommen“. Wetten, dass!?!)